Als Lehrperson im Zeitalter der Dauerkrisen: Weltkrisen wie Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Inflation als Unterrichtsthemen
Als Lehrperson in Dauerkrisen: Was bedeutet das?
Bist du als Lehrperson schon mal von deinen Schüler:innen mit der Frage konfrontiert worden, was eine “Dauerkrise” ist? Die Trendstudie “Jugend in Deutschland”, die seit 2020 zweimal im Jahr unter der Führung von Bildungs- und Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann durchgeführt wird, hat in ihrer aktuellen, diesjährigen Studie herausgefunden, dass sich die Altersgruppe der 14 bis 29-Jährigen in einer Art Dauerkrisenzustand befindet. Von einer Dauerkrise wird gesprochen, wenn sich viele historisch bedeutende Krisen parallel abspielen und das über einen längeren Zeitraum. Wie können Lehrpersonen mit Dauerkrisen umgehen?
Wenn die Weltgeschehnisse Jugendliche mehr beschäftigen als der tägliche Schulstress
Für die Altersgruppe der 14 bis 29-Jährigen können sich solche historischen Ereignisse anfühlen, als hätte es sowas noch nie in diesem Ausmaß gegeben. Hurrelmann und seine Kolleg:innen haben für die repräsentative Online-Studie zwischen Februar und März 2023 über 1000 junge Menschen befragt. Laut Studie beschäftigen die jungen Menschen der Altersgruppe zwischen 14 und 29 Jahren nicht nur die Prüfungsphasen, die richtige Wahl ihres Studiengangs oder der Einklang zwischen Beruf und Familie, sondern eben auch ganz massiv der aktuelle Dauerkrisenzustand. Neben den Auswirkungen der Corona-Pandemie seien jetzt vor allem der anhaltende Ukraine-Krieg und nicht zuletzt die steigende Inflation zu nennen.
Welchen Einfluss haben Dauerkrisen auf den Alltag der Lehrkräfte?
Lehrkräfte tragen viel Verantwortung in Bezug auf die Unterrichtsvorbereitung und Organisation von Verwaltungsangelegenheiten. Durch diese Belastung bleibt im Schulstress oft wenig Zeit, um sich mit globalen Ereignissen auseinanderzusetzen, welche die Schüler:innen beschäftigen. Doch das ist heute wichtiger denn je, wie die aktuelle Trendstudie zeigt.
“Es ist eine Art Dauerkrisenmodus, in der sich die junge Generation heute befindet”, so Hurrelmann in einem Interview mit der Reporterin Lisa-Sophie Scheurell in der Folge “Weltschmerz: Machen uns die Dauerkrisen krank?” vom 29.02.2023 des Podcasts Wissen Weekly. “Wir leben gerade in einer Zeit, in der sich besonders viele, historisch bedeutende Krisen parallel abspielen. Auf den ersten Blick ist eine solche Aufeinanderschichtung von Krisen, wie sie die heutige junge Generation erlebt, historisch ungewöhnlich”, führt der Bildungs- und Sozialisationsforscher weiter aus. “Die Krisen betreffen uns direkt im Alltag, den Klimawandel spüren wir bei uns in Deutschland und durch die Sozialen Medien sind wir ganz nah dran an den Krisen und es fühlt sich an, als wären wir mittendrin im Ukraine-Krieg”, heißt es im Interview. Hurrelmann hatte bereits in der fünften Trendstudie (2022) herausgefunden, dass dieser Dauerkrisenmodus bei 25% der Befragten in der Altersgruppe 14-29 Jahre psychische Spuren hinterließe. Damals wurden als Symptome ein hohes Stressniveau, Antriebslosigkeit und Motivationslosigkeit genannt, 10% der Befragten berichteten gar von Hilflosigkeit und Suizidgedanken. Bei der aktuellen Studie waren es schon 46% der jungen Generation, die angaben, unter Stress zu leiden. Erschöpfung (35%), Selbstzweifel (33%) und Gereiztheit (24%) seien Ausdruck der psychischen Belastung junger Menschen. Nicht zu vergessen auch junge Menschen mit Fluchterfahrung, die traumatisiert sind.
Junge Menschen sind durch Dauerkrisen belasteter als die ältere Generation
Erstmals vergleicht die Neuauflage der Studie die Gefühlswelt junger Menschen mit derer der mittleren und älteren Generation. Hier wird deutlich, dass unter den 50 bis 69-Jährigen nur 20% der Befragten von Stress berichten. Auch Erschöpfung, Selbstzweifel und Gereiztheit fallen deutlich niedriger aus als in der jungen Generation (25%, 11% und 14%). Zum ersten Mal wurde also gemessen, dass die jungen Menschen unserer Generation am stärksten belastet sind durch die Dauerkrisen unserer Zeit. Diese Zahlen sind erschreckend und zeigen deutlich, dass Schüler:innen dauerhaft mit Krisenthemen beschäftigt sind, die sie mit in die Schule bringen. Dennoch gibt es Hoffnung: Hurrelmann sagt auch, dass die jungen Erwachsenen trotz viele schlechter Nachrichten positiv auf ihre Zukunft schauen.
Auf welche Weise können Lehrkräfte auf die Krisenthemen, die ihre Schüler:innen beschäftigen, im Unterricht eingehen?
An dieser Stelle können Lehrkräfte anknüpfen. Denn ein Schlüssel zur psychischen Gesundheit ist, die Selbstwirksamkeitserwartungen eines Menschen zu stärken. Ganz einfach gesagt: ins Handeln zu kommen. Konkret könnte das so aussehen, dass Lehrkräfte ihre Schüler:innen darin unterstützen, an Veranstaltungen wie Fridays for Future teilzunehmen und ihnen die Möglichkeit bieten, sich politisch zu engagieren und ihren Idealismus auszuleben. Dazu zählen natürlich ebenso gemeinsame Ausflüge im Klassenverband. Besuche von umliegenden Unternehmen, die Veranstaltungen zu aktuellen Themen anbieten, sollten auf dem Unterrichtsplan stehen. Damit die junge Generation Orientierung findet, braucht sie Rückhalt und den Raum, sich ausleben zu können. Agile Unterrichtsstrukturen als Klassenführung zu integrieren, ermöglicht ein hohes Maß an Flexibilität in den Unterrichtsangeboten. Einige Lehrkräfte hatten Glück, dass Führungs- und Organisationsmanagement Teil ihres Studiums war. Ist das nicht der Fall, können Weiterbildungsangebote hilfreich sein. Für manche Lehrkräfte klingt es jetzt eventuell so, als müssten sie ihre Rolle neu erfinden. Vielleicht ist das auch so, aber vielleicht ist das auch einfach die Vorstellung von “New Work” im Bildungskontext.
Was können Lehrkräfte im Zeitalter der Dauerkrisen konkret tun?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sich Schulstress auf die Entwicklung und das Wohlbefinden von Schüler:innen auswirkt. Wenn jetzt noch weitere einschneidende Ereignisse dazu kommen, kann es kritisch werden. Wie bereits oben erwähnt, haben die 14- bis 29-Jährigen in Deutschland noch nicht den Mut verloren und blicken grundsätzlich sehr positiv in die Zukunft. Das deutet darauf hin, dass sie sich mit Themen beschäftigen und in diesem Prozess Unterstützung erfahren. Da Schüler:innen die meiste Zeit ihres jungen Lebens in Ausbildung verbringen, ist es von Vorteil, wenn sich Lehrkräfte dessen bewusst sind, dass sie einen enormen Einfluss auf die Mitgestaltung des Schulalltags haben. Achtsam zu sein, kann schon sehr helfen. Außerdem bietet es sich an, konkrete Fragen von Schüler:innen nicht unbeantwortet zu lassen, sondern sich zu informieren, wenn man als Lehrkraft mal keine Antwort auf eine Frage haben sollte. Für Gefühle und Emotionen sollte immer Raum sein.
Fazit
Lehrkräfte, die ihre Schüler:innen wahrnehmen, sie ernsthaft in Gespräche einbeziehen und ihnen ein Sprachrohr bieten, investieren in einen wertschätzenden Umgang. Dieser wirkt sich auf das gesamte Klassengefüge aus. Ein ehrliches Interesse für jene Themen, die Schüler:innen in den Klassenraum tragen, sie dazu zu ermutigen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und im Klassenverband zu präsentieren, um Gespräche anzuregen – all das können Wege sein, in den Dialog zu gehen. So bleiben Lehrkräfte in Dauerkrisen nah an ihren Schüler:innen dran und können sie in ihrer persönlichen Entwicklung – auch in schwierigen Zeiten – auffangen und unterstützen.
Verwendete Quellen und Links zum Weiterlesen
https://open.spotify.com/episode/1YeiS7Flkxu6u1eIhanrs9?si=bea5d8c5c2794783&nd=1
https://www.zdf.de/dokumentation/zdf-reportage/jung-arm-gefrustet-100.html
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/buendnis-fuer-die-junge-generation